Es geht um ein Foto, das Menschen zeigt, die mit Fotografien demonstrieren, mit Bildern, die vorgezeigt werden, um etwas zu bewirken, sozialen und politischen Wandel zu unterstützen. Hier geht es nicht um eine ästhetische Erfahrung, sehr wohl aber um die Nutzung eines Dispositivs, innerhalb dessen eine Fotografie aufgrund ihrer besonderen Gestalt, ihrer Form also, politische Auffassungen zu beeinflussen und das Bewusstsein des Publikums zu verändern vermag. Um Inhalte also geht es.

Um ihre Macht zu entfalten, müssen Bilder in Umlauf gebracht werden. Die Fotografie eignet sich dazu besonders, indem sie vielfältig umgestaltet werden kann, sich in neue Zusammenhänge einfügt und dabei ihre Substanz zu verändern scheint, wenngleich ihre ideelle Matrix als gleichsam platonisches Urbild im Negativ bewahrt scheint. So argumentiert Jacob Birken in seiner Darlegung des Publikationsschicksals einer berühmten Aufnahme des einst ebenso berühmten, bald aber beinahe vergessenen Fotografen Arnold Genthe, die am 18. April 1906, dem Tag des Erdbebens von San Francisco, den Blick entlang der von rauchenden Trümmern gesäumten Sacramento Street zeigt (S. 8–18). An diesem Bild wird deutlich, dass die Sensation der visuellen Repräsentation so attraktiv war, dass darüber der Name des Autors verblasste. Das Bild bleibt mächtig, zieht Nachformungen an sich, so besonders die Neuinterpretation durch Ansel Adams, der 1940 mit Billigung des Autors einen Abzug anfertigte, der die ursprüngliche Botschaft in völlig neuer Form erscheinen lässt – eine aspektreiche Anverwandlungsgeschichte, in deren Verlauf das „Lichtbild“, wie Birken argumentiert, „auf triviale Weise platonisch verstanden“ wird, insofern in den verschiedensten Verkörperungen vielleicht erst eine Art Urbild greifbar wird.

Der Zufall bringt es mit sich, dass auch in Bernd Stieglers umfassendem Beitrag zum Werk und zur theoretischen Orientierung des Fotografen und bedeutenden Lehrers für Fotografie, Otto Steinert, von einer platonischen beziehungsweise neoplatonischen Auffassung die Rede ist (S. 19–31). Hier wird allerdings nicht auf die in Bezug auf ein ideales Urbild stets unvollkommene Erscheinungsweise der jeweiligen materiellen Verkörperung des ausbelichteten Papierabzugs angespielt, sondern auf Steinerts Konzeption der „absoluten Fotografie“, welche „die Abbilder hinter sich“ lasse, um „zu den Urbildern“ zu gelangen. Steinert wird bescheinigt, dass er jene angebliche Gebundenheit der Fotografie an die Abbildlichkeit und vor allem an die natürliche Zeitlichkeit des Augenblicks auflöst und überwindet zugunsten einer rein formalen Auffassung, die hier ganz im Einklang mit der formalen Ästhetik der Abstraktion der Nachkriegsjahrzehnte steht, resultierend in einer absoluten Formkunst, die freilich aus der strengsten Beherrschung der Technik hervorgeht.

Fragen der Technik stehen naturgemäß in der Rubrik „Materialität“ im Mittelpunkt. Dirk Lichtblau, Alice Tran und Michael Rothe beschreiben die erfolgreiche Anwendung des nicht-invasiven Verfahrens des SurveNIR-Systems zur Identifikation und zur Zustandsbewertung von Cellulosenitrat- / Celluloseacetat-Filmen (S. 32–46).

Der Anwendungsfall mag normalerweise gleichgültig sein, ist doch das technische Problem für sich genommen interessant genug. Man kann aber nicht umhin, hier auch den besonderen Bestand zu beachten, das heißt die inhaltliche Seite zu sehen. Es ist eben nicht gleichgültig, welche Bestände, welche fotografischen Sammlungen wir zu bewahren und zu konservieren haben. Die Frage der mehr oder weniger gegebenen Angemessenheit des zu betreibenden Aufwandes lässt sich nicht abstrakt, sondern nur im Blick auf die inhaltliche Bedeutung beantworten. Hier ist sie evident. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass hier Röntgenbilder von im Nationalsozialismus zwangsverschleppten Menschen vorliegen. Der besonders pflegliche Umgang mit diesen Bildern als Spuren menschlicher Existenzen, zugleich Zeugnissen menschenverachtenden Handelns ist eine moralische Verpflichtung der Nachwelt. Die Technik, die Form sind hier nebensächlich. Es ist der dadurch repräsentierte Inhalt, der uns zu interessieren hat und durch diese technisch bewerkstelligten Schattenbilder überhaupt greifbar wird.

Hubert Locher